Frühjahrsputz – ein Ratgeber

Der seltsame Drang, im Frühjahr groß reinemachen zu müssen.

Früher hatten ihn die Häuser dringend nötig: den Frühjahrsputz. Heute – in Zeiten von Staubsauger und Zentralheizung – könnte man getrost auf ihn verzichten. Tatsächlich tun das jedoch die wenigsten. 90 Prozent aller deutschen Haushalte unterziehen im Frühjahr ihre Wohnräume einer Tiefenreinigung. Warum? Die Antwort liegt irgendwo zwischen Tradition, Symbolik und der menschlichen Biologie.

Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts sorgten Holz- und Kohleöfen im Winter für wohlige Wärme in den Häusern. Öl- und Petroleumlampen erhellten die Räume, wenn die Sonne nicht mehr ausreichte. Für die Haushalte bedeutete das, dass an jedem einzelnen Wintertag eine neue Schicht Dreck anfiel. Ruß, Öl und Staub verdichteten sich zu einem Grauschleier, der Schritt für Schritt die Innenräume überzog. Dagegen anzuputzen war – bei geschlossenen Fenstern und Türen, um die Wärme drinnen zu behalten – vergebens. Und so vertagte man das Großreinemachen auf besseres Wetter. Sobald es der Frühling erlaubte, Ofen und Öllampe ruhen zu lassen, wurde die Inneneinrichtung auf den Hof getragen, abgestaubt, ausgeklopft und blitzblank poliert. In der guten Stube wurde derweil – bei weit geöffneten Türen und Fenstern – gefegt und gewienert, bis auch die letzte Rußschicht des Winters verschwunden war.

Der Frühjahrsputz lief nach klaren Regeln ab. Die ganze Familie packte mit an. Insbesondere für bäuerliche Familien, die im Jahresverlauf ihre Energie in den Acker und die Viehwirtschaft steckten, war das Frühjahr die einzige Zeit, um sich intensiv der Hygiene des Zuhauses zu widmen.

Tradition…
Heutzutage muss niemand mehr den kompletten Hausstand auf den Hof tragen, um ihn vom Grauschleier des Winters zu befreien. Die Öllampe ist durch die Glühbirne ersetzt worden und Holzöfen werden meist nur als schicker Zusatz zur zentralen Fußbodenheizung betrieben. Und der Mensch zieht sich im Winter auch nicht mehr in dem Maße in die gute Stube zurück, wie es früher der Fall war: Er verlässt auch in der dunklen Jahreszeit tagsüber meist das Haus, ist in der Schule oder auf der Arbeit anzutreffen. Einige verlassen für den Winterurlaub ihren Wohnsitz ganz und gar. Und wenn nicht, beseitigen Staubsauger und Mikrofasermopp anfallenden Staub, Schneematsch und die Abdrücke nasser Schuhsohlen meist regelmäßig, teilweise sogar automatisch. Die Haushalte in Deutschland investieren im Schnitt immerhin 4,5 Stunden pro Woche in die Sauberkeit der Wohnräume.

4,5 Stunden, die für die wenigsten ein Grund zur Freude sind. Zu Unrecht, findet Ethologen und Putzkundler. Wer das alltägliche Putzen richtig anstellt, kann aus der Routine sogar neue Energie schöpfen. Wie das geht, lehren die Fachleute unter dem Motto „Achtsame Raumpflege“ in Büchern und in Putzschulen. Zum Beispiel kann man das Putzen als Tanz begreifen und sich mit einer abgestimmten Choreographie im eigenen Rhythmus den Raum erschließen. Als Tanzpartner den federleichten Putzkorb und ökologische Reinigungsmittel. Die tun Mensch und Umwelt gleichermaßen gut. Die Putz-Choreographie bezieht den ganzen Körper ein. Der Tisch wird mit leicht gebeugten Knien und ausholenden Armbewegungen unter Aktivierung der Rückenmuskulatur gewischt. Nicht steif und verkrampft, das verhindert Bewegung, die ja bekanntlich dafür sorgt, dass vermehrt Endorphine ausgeschüttet werden. Gute Laune nimmt den Druck vom Dreck. Denn sich über Dreck zu ärgern ist zwecklos, denn er entsteht unweigerlich. Die Empfehlung: Augenwischerei, also das Reinigen der Stellen, die beim Betreten des Raumes ins Auge fallen. So tastet man sich langsam vor – von Bereich zu Bereich – und lässt sich vom Erfolgserlebnis für den nächsten Schritt motivieren. Die Gestaltung der Putzroutine ist so individuell wie der Anspruch an Komfort und Hygiene des Einzelnen. Doch in puncto Frühjahrsputz ist sich die Mehrheit einig.

Einmal im Jahr ist er der Anlass für Fensterputzen, Aufräumen und Staubwischen. Alles Tätigkeiten, die unabhängig von der Jahreszeit vollzogen werden können, jedoch im Frühjahr besondere Aufmerksamkeit erlangen. Der Frühjahrsputz wurde als gelerntes Handlungsmuster von damals an die folgenden Generationen weitergegeben und ist – trotz mangelnder Notwendigkeit – als Tradition im Jahresverlauf fest verankert.

…mit neuer Komponente
Aber dem jährlichen Frühjahrsputz ist heutzutage eine neue Komponente hinzugefügt worden: In einer repräsentativen Umfrage hat immerhin knapp ein Viertel der Befragten angegeben, ihn zum Anlass zu nehmen, sich von überflüssigem Hab und Gut zu entledigen. Frühjahrszeit ist nicht umsonst auch Flohmarktzeit.

Früher hatten die meisten Haushalte nichts in den Wohnräumen, was es auszumisten galt. Diese Prozedur war den Viehställen vorbehalten. Heute befinden sich in vielen Schubladen, Schränken und Kellern Dinge, deren Nützlichkeit oder emotionale Bedeutung verjährt oder zumindest fragwürdig ist. Platzmangel und das Gefühl, von zu viel Unordnung umgeben zu sein, sind die Folge. Ausmisten scheint heute eine Notwendigkeit zu sein. Eine Fülle an Entrümpelungs- und Ordnungsratgebern in den Buchläden beweist das. Sie alle geben das Versprechen, dass Aussortieren von ungeliebten Dingen nicht nur dem Wohnraum, sondern auch dem Leben eine neue Klarheit verschafft.

Eine populäre Ratgeberautorin, die weltweit mittlerweile etwa elf Millionen Bücher zum Thema verkauft hat und spätestens seit ihrer eigenen Fernsehserie weltberühmt ist, vertritt den Grundsatz „Zwei Drittel der Sachen in einem Haushalt können entsorgt werden“. Der Weg dorthin ist stramm und minimalistisch. Diese Methode erfordert Tempo, Konsequenz, Struktur und vor allem emotionale Evaluation. Am Ende dürfen nur jene Gegenstände bleiben, die auch wertgeschätzt werden. Alles andere – von ausgedientem Spielzeug bis zu kuriosen Küchen- und Sportgeräten – findet bei gemeinnützigen Vereinen, über öffentliche Bücherschränke und Flohmarkttische neue Besitzer. Im Idealfall bleiben nach dem Ausmisten nicht nur Platz und Ordnung, sondern auch die Motivation, überbordendes Kaufverhalten zu überdenken.

Putzen als Ritual…
In vielen Kulturen hat der Frühjahrsputz – ob nun mit oder ohne Ausmisten – eine rituelle Bedeutung. Zum Beispiel findet vor dem persischen Neujahrsfest Nowruz (der neue Tag) im März das Ritual Khane-Tekani (das Haus schütteln) statt: Vom Keller bis zum Dachboden wird das Haus renoviert und geputzt. Ähnlich verhält es sich beim chinesischen Neujahrsfest Ende Januar: Vor den 15-tägigen Feierlichkeiten wird der Wohnraum akribisch geputzt. In buddhistisch geprägten Kulturen werden vor dem Neujahrsfest im April nicht nur Buddhastatuen, sondern auch die Häuser auf Hochglanz poliert. In Vorbereitung auf das jüdische Pessach-Fest im April, an dem der Befreiung der Juden aus der Sklaverei gedacht wird, werden die Häuser nach einem festgelegten Ablauf gesäubert. Orthodoxe Christen beginnen die Fastenzeit mit einem Hausputz in der sogenannten „Reinen Woche“, bevor sie sich mit Fasten auf Ostern vorbereiten. Gemein haben die Feste, dass sie die Auferstehung zelebrieren: der Natur, des Volkes oder von Gottes Sohn. Der Frühjahrsputz, als gemeinschaftlich vollzogenes Ritual, steht dabei symbolisch für die Erneuerung des Einzelnen – innen wie auch außen.

Es liegt in der Biologie…
Wer den Frühjahrsputz begeht, hat seine Gründe. Ob aus erlernter Tradition, wegen eines gemeinschaftlichen Rituals oder weil er schlichtweg der Natur gerecht werden will. Nicht nur Flora und Fauna aktivieren im Frühling neue Lebensgeister, auch der menschliche Rhythmus verändert sich. In der dunklen Jahreszeit neigen wir zu mehr Gemütlichkeit. Der Mangel an natürlichem Tageslicht löst die Freisetzung von Melatonin aus, einem Hormon, das Schläfrigkeit verursacht. Sobald jedoch die Tage länger werden, sinkt die Produktion von Melatonin – der Winterschlaf ist vorbei, man wird aktiver. Anstrengendes Schrubben der Badezimmerfliesen kommt da all jenen recht, die ihre erwachten Lebensgeister in sichtbare Ergebnisse umwandeln wollen.

Nach dem Frühjahrsputz ist vor dem Frühjahrsputz…
Dass diese sichtbaren Ergebnisse nicht von Dauer sind, liegt in der Natur des Schmutzes. Er befällt jeden Tag aufs Neue Fensterscheiben und Möbelstücke. Davon sollte man sich den Spaß am Frühjahr aber nicht nehmen lassen. Klar, wenn der Sonnenschein ein paar Tage nach dem Großreinemachen neue Schlieren enttarnt, kann man zum Lappen greifen – oder einfach an die frische Luft gehen. Das tut mindestens genauso gut. Und der seltsame Drang, im nächsten Frühjahr die Wohnräume wieder herauszuputzen, kommt bestimmt.

 

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Ein Beitrag unserer/s Leserin/s Dagmar Hansermann aus Pinneberg in Schleswig-Holstein.
Sämtliche Bezeichnungen auf dieser Webseite richten sich an alle Geschlechter.

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